Wir sind nicht das Spielgerät, wir sind die Spieler!

Obwohl die Bundestagswahl erst am kommenden Sonntag stattfindet, analysieren Journalisten und Medien bereits seit Tagen eifrig die vermeintlichen Ergebnisse. Dabei zeigt sich zuweilen ein eigenartiges Demokratieverständnis und eine spezielle Sicht auf den Souverän, das Volk.

Am Sonntag, den 26. September 2021 um Punkt 18 Uhr werden ARD, ZDF, Pro Sieben, RTL und jede Menge weiterer Sender ausnahmsweise einmal alle zur gleichen Zeit dasselbe senden: die erste Prognose zum Ausgang der deutschen Bundestagswahl 2021. Warum gerade um 18 Uhr? Nun, natürlich weil dann die Wahllokale schließen und weil es verboten ist, „Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe („Exit-Polls“) über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit zu veröffentlichen“ (§ 32 Abs. 2 BWahlG).

Der gute Grund für diese Spielregel einer demokratischen Wahl, die in vielen Ländern so oder so ähnlich gilt, ist, dass Wählerinnen und Wähler in ihrer Wahlentscheidung nicht vom Wahlverhalten anderer beeinflusst werden sollen. Nicht umsonst ist die geheime Wahl besonders wichtig für eine funktionierende Demokratie.

Bei der diesjährigen Bundestagswahl haben allerdings viele Medien – Zeitungen, Magazine, TV-Sender – offenbar beschlossen, dass sie diese Regel geschickt umgehen können, indem sie die eigentliche Wahl gar nicht erst abwarten, sondern deren Ausgang sogar ohne Exit-Polls bereits vorwegnehmen und direkt in die Analyse starten. Welche Fehler haben die Grünen gemacht, wie gelang Olaf Scholz der Sprung ins Kanzleramt, was wird aus der Union nach Laschets Abgang. All das lässt sich schon seit Tagen Länge mal Breite nachlesen.

Wenn sich Medienschaffende dabei einreden, dass ihre Beiträge die Wahlberechtigten nicht beeinflussen würde, dann gehen sie entweder offenbar davon aus, dass ihr journalistisches Wirken ohnehin keinerlei wirkliche Wirkung entfaltet, was ein ziemlich trauriges Selbstbild für eine Berufsstand wäre, der sich gerne als vierte Kraft im Staat bezeichnet, oder es ist ihnen die Wahl und mithin die Demokratie ebenso wenig wert, wie man es gemeinhin den Social-Media-Plattformen unterstellt. Jedenfalls weniger als die Aufmerksamkeit und die Umsätze, die sich mit den Artikeln der beschriebenen Art offenbar erzielen lassen.

Die Wahl als Fußballmatch

Aber nicht nur das sollte uns, das Wahlvolk, zu denken geben und betrüben. Denn aus diesem Verhalten spricht mehr als nur die Gier nach dem schnellen Klick. Es zeigt sich eine gewisse Geringschätzung gegenüber dem Souverän eines demokratischen Gemeinwesens, den Wählerinnen und Wählern. Anschaulich wird dies beispielsweise in dem Teaser-Text, mit dem eines der führenden Leitmedien des Landes die aktuelle Wochenausgabe bewirbt: „Im Frühjahr befanden sich die Grünen auf einem Höhenflug, […], die Partei verspielte eine historische Chance.“

Eine Chance verspielt, das klingt wie der Bericht zu einem Bundesligaspiel. Mal abgesehen davon, dass eine Bundestagswahl – die diesjährige vielleicht ganz besonders – doch eine ernsthaftere Angelegenheit sein sollte als ein Fußballspiel, würde zwar natürlich niemand zur Gänze bestreiten, dass Strategie, Aufstellung, individuelle Stärken oder auch Fehler Einfluss auf Wahlergebnisse haben. Sonst würden Parteien den Aufwand ja nicht betreiben. Aber die reine Fokussierung auf „die Partei“, auf die Politiker verkennt eines ganz klar. Wahlen werden nicht von Parteien entschieden, sondern von den Wählerinnen und Wählern.

Wenn also jemand eine historische Chance „verspielt“, so man die Möglichkeit einer grünen Kanzlerin in Deutschland als solche betrachtet, dann wären es die Wählenden.

Der Ball trägt keine Verantwortung

Wenn man es einmal so ausspricht, wird auch ein weiteres Motiv dafür ersichtlich, warum die Medienschaffenden das Wahlvolk bei ihren Analysen und Kommentaren behandeln, als wären sie das Spielgerät, also der Ball, den es ins Tor zu bugsieren gilt: der Ball ist niemals verantwortlich. Und wenn Journalisten und Redakteurinnen etwas scheuen, wie der Stürmer den Videobeweis, dann ist es die Leserinnen und Leser, Zuseherinnen und Zuschauer für etwas verantwortlich zu machen. Das könnte diese ja missmutig stimmen und zum Abbruch des Geschäftsverhältnisses führen. Da ist es immer die Nummer sicher, wenn „die Politik“ für alles verantwortlich ist, selbst für das Wahlverhalten des Volkes.

All die medialen Analysten und Kommentatoren übersehen geflissentlich auch, dass Wählende tatsächlich doch auch selbst Überzeugungen, aber auch Ängste und Vorurteile haben und sie vor allem ihr Verhalten nicht selten an dem von anderen ausrichten, am besten an dem von vielen. Sei es beim Kauf einer Markenjeans, beim Zulegen eines Tattoos, oder eben beim Kreuzchenmachen in der Wahlkabine. Womit wir wieder bei den anfangs erwähnten Spielregeln für Wahlen wären.

Ängste, Gewohnheit und die Meinung der Nachbarn zählen mehr, als verlachte Fototermine oder fehlende Zitatnennungen

Dieser Unterschätzung des Wahlvolkes führt beispielsweise auch zu Interpretationen der gewaltigen Verschiebungen, die zwischen den Umfragen aus dem Frühjahr und den zuletzt erhobenen Werten stattgefunden haben, die nach – nicht repräsentativen – Erhebungen im privaten Umfeld des Autors dieser Zeilen, schlichtweg falsch sind. Dass die Grünen im Mai mit über 26% einmal auf Platz eins lagen und nun mit rund 10 Prozentpunkten weniger nurmehr auf Platz drei liegt nicht an den vermeintlichen Fehlern die Kanzlerkandidatin oder dem „schlampigen Wahlkampf“ der Partei und, dass die Scholz-SPD im selben Zeitraum von unter 20 % auf nun führende 26% geklettert ist, nicht an einer genialen Strategie aus dem Willy-Brand-Haus. Vielmehr steckt der Fehler in der sogenannten Sonntagsfrage. Bei „wenn nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre“, weiß nun mal jede und jeder Befragte, dass Mitte Mai 2021 die Wahl noch nicht ansteht. Da fällt es leicht, eine der sozialen Erwartung oder auch dem eigenen Gewissen folgende Antwort zu geben und mal eben „Grün“ zu sagen. Wenn aber der echte Wahltag näher rückt und es einige Zeit lang so aussah, als könnte das historische Ereignis tatsächlich eintreten, da kriegt man schon mal kalte Füße. Da stimmt es sich dann am Ende doch wohliger für das Angebot, bei dem man hofft, dass sich am Ende am wenigsten ändert und vor allem nicht schlechter oder gar teurer wird.

Buchplagiate oder Fehler im Lebenslauf, an die sich im Detail keiner der zufällig Befragten mehr erinnern konnte, dienen da im besten Fall als gute Ausreden für den Sinneswandel. Ursächlich sind sie aber nicht.

Es wäre schön, wenn breitenwirksame Medien, anstatt sich in endlosen Vorwahlanalysen zu ergehen, den wirklich Verantwortlichen für den Ausgang einer Wahl, also den Wählenden, einmal ihre Verantwortung deutlich machen könnten. Dass es ihre Wahl ist, ihre Chance der Teilhabe am demokratischen Gemeinwesen und kein Sportereignis, bei dem es darum geht, den Sieger oder die Siegerin zu tippen. Es würde einer Bundestagswahl die ihr angemessene Ernsthaftigkeit verleihen. Noch wären dafür ja ein paar Tage Zeit

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